Kapitel I
Die Prüfung Mitras
Schwere Weihrauchdämpfe erfüllten die große Halle aus weißem Stein. Auf dem Altar lagen farbenprächtige Blumen, duftende Kräuter und frisches Obst. Heute war Victorias großer Tag, und der von gut einem Dutzend junger Frauen und Männer. Ein Fest zu Ehren des Allgerechten, zugleich auch eine Prüfung Mitras und ein letzter Schritt zu ihrem begehrter Ziel: Der offiziellen Priesterschaft. Schon seit ihrem zehnten Lebensjahr, seitdem das schlanke Mädchen mit dem strohblonden Haar und den wachen Augen, gelblich wie Katzengold stechend, dem Tempel beiwohnte, bereitete man sie auf diese Rolle vor. Sittsamkeit, Ehrlichkeit mit sich selbst und anderen, Frömmigkeit, Abstinenz, all das verlangte große Willenskraft in einer sonst so wilden und ruchlosen Welt. Mit geschlossenen Augen und gesenkten Häuptern, standen die Jugendlichen in der großen Halle aus weißem Stein in Reih und Glied still da. Sie sprachen im Stillen seit Stunden ihre Gebete, meditierten vor sich hin oder gaben ihren Körper zwischenzeitlich sanften Zuckungen hin, wenn kryptische Visionen sie ereilten. Der Schweiß lief ihnen die, mit einfachen farblosen Leinenroben, züchtig bedeckte Haut hinunter. Der augenscheinlich schlichte Tempel lag an der Küste Zingaras und die frische Meeresbrise erfüllte von Zeit zu Zeit ihre Sinne, versuchte sie alle lockend abzulenken, versprach eine Freiheit von großer Weite, Abenteuer, erste lustvolle Romanzen und auch etwas, was die bevorstehende Priesterschaft ihnen nicht geben konnte: aufbrausendes Adrenalin.
Victorias Augen zuckten ab und an, mit Mühe hielt sie sie geschlossen, mit noch größerer Mühe atmete sie leise, ohne auch nur einmal kräftiger Luft zu holen. Der Großteil der Novizenschaft war hyborianischer Abstammung, sie selbst kam aus einer zingarianischen Familie. Ihr Vater, Kauf- und Lebemann, gab sonst nicht viel auf die Götter, lobpreiste er sie doch nur nach gewinnbringendem Handel. Und dann waren solch Kleinigkeiten, wie die richtigen Namen und Gebete, für ihn nicht von sonderlichem Belang. Victoria war heute alt genug um zu verstehen, dass er sie damals aus reinem Eigennutz in den Tempel schickte: Welcher Geschäftspartner würde die Ehrlichkeit eines Kaufmanns bezweifeln, dessen Tochter offiziell dem Herrn der Wahrheit diente? Als Zehnjährige empfand sie ihren Umzug allein vom Inland an die Küste, als eine Bestrafung. Als eine einzige Verbannung, eine Abschiebung für eigentlich ungewollte Kinder. Sie weinte die ersten beiden Nächte hindurch und setzte sich morgens mit geröteten Augen und trotzigem Blick zu den anderen Jungnovizen, bekam die ersten Lehrstunden nicht einmal wirklich mit und spürte nur Wut in sich. Wut über ihre desinteressierten Eltern, Wut über ihre eigene Existenz. Sie war Einzelkind und auch noch ungewollt. Ihre Eltern liebten sich, sie führten eine leidenschaftliche Ehe und lachten viel miteinander, doch niemand lachte damals mit ihr. Nach einigen Wochen im neuen Zuhause, erschöpfte sie der eigene Widerwille. Viel zu lange hatte sie nach Bestätigung gehungert, um sich nun selbst der Einsamkeit zu verschreiben. Und so begann sie, den Worten der alten Priester zu lauschen: "Ein jedes Leben ist wertvoll. Ein jedes Leben ist zu achten. Ein jedes Leben unterliegt der höheren Ordnung, der Gerechtigkeit des weisen Allvaters Mitra." Diese Sätze gaben ihr etwas, was ihre eigenen egozentrischen Eltern versäumten: Das Gefühl von Wert zu sein. Sie war gut, ein gutes Kind. So lange sie sich an die Regeln hielt, war sie wertvoll und rein. Die Regeln bestimmte natürlich einzig und allein der Herr aller Ordnung Mitra, auf weltlicher Ebene musste sie sich anfangs mit seinen Stellvertretern, den alten Priestern des Tempels, begnügen. Und so geschah es, dass das Mädchen, das schon immer vergeblich nach der Aufmerksamkeit ihrer Eltern hungerte, begann in Mitra selbst einen Vater zu sehen, eine aufmerksame Familie die sich kümmerte und Sicherheit versprach.
"Bitte... Bitte... Bitte..." - erklang es leise zur Rechten Victorias. Es war Selene, ihre beste Freundin und gleichzeitig ihr größtes Laster, eine einzige Ablenkung. Ob der lockige Rotschopf für die Armen betete oder doch nur darum, nicht gleich vor Hunger in Verbindung des verführerischen Obstgeruchs ein lautes Magenknurren von sich zu geben? Victoria konnte bei dem Gedanken gerade noch so ein sichtbares Schmunzeln unterdrücken. Sie waren alle noch so jung und in einer Lebensphase, in der Körper und Geist sich gern mal der eigenen Kontrolle entzogen. Nun vernahm sie die Gebete der alten Priester, wie sie sich im Tonfall steigerten. Es musste bereits Abend sein. Gleich waren sie erlöst, durften sich rühren und dann nacheinander, den abschließenden Segen am Altar empfangen! Die frisch gebackenen Jungpriester waren dabei ihre Haltung zu lockern, die Augen zu öffnen und mit Freude obhin des eigen dargereichten Opfers zu lächeln.
Dann folgten die Schreie und es wurde dunkel...