Kapitel III
Der Zauberer und die Wüste
Erst
mussten sie sich waschen, vor den Augen einiger vielsagend grinsender
Piraten unter Deck, dann wurde ihnen aufgetragen, sich zu schminken. Wer
sich verweigerte, wurde mit natürlichem Rot-Blau harter Schläge
kunstvoll verziert. Victoria war gehorsam, so wie sie es auch vom
Tempelleben kannte und wie es Mitra sicher auch zu schätzen wissen
würde, ihr vielleicht doch noch einen Ausweg aus dem realen Alptraum
offenbarte. Zurechtgemacht wie eine Dirne, wurde sie schließlich mit den
anderen Mädchen auf's Deck gebracht und dann vom Schiff, auf den
kürzlich angesteuerten Hafen. Die Jungen waren nun wieder mit dabei. Es
war heiß und die kleine Ortschaft wirkte wie ein Paradies für
Gesetzlose. Die ehemaligen jungen Tempelbewohner hatten noch nie so
viele Dolche und Säbel gesehen, noch nie so viel freie Haut und noch nie
so viel Lärm vernommen. Man brachte sie auf einen großen Platz, zu noch
weiteren Gruppen junger Frauen und Männer, die bereits zitternd dort
warteten. Was war das nur für ein Ort? Würden sie sie hier nun alle
töten? Oder vielleicht gar alle gemeinsam schänden? Victoria blieb die
ganze Zeit über verschohnt und das nur um jetzt doch zu sterben? Nein,
es war etwas Anderes. Die Piraten verfrachteten sie und die Anderen
nicht grundlos hierher. Vor ihnen wechselten sich die jungen Leute, an
Händen gefesselt, auf einem hölzernen Podest ab. Standen nur da, mal
allein, mal in kleinen Gruppen, bis sie einem Mann aus der Menge
zugewiesen wurden. Verkauft! Sie wurden hier wie billiger Ramsch
verkauft! Dann waren Victoria und Selene an der Reihe: Still und fügsam,
nahmen sie nebeneinander zu zweit auf dem Podest Platz. Endlich konnte
sie sich gewiss sein, dass ihre Freundin noch unter den Lebenden weilte!
Noch ehe sie etwas zu ihr sagen konnte, noch ehe sie ihren Schmerz, den
sie sichtbar in den grauen Augen trug, zumindest mit Worten versuchen
würde zu lindern, wurde Victoria vom Podest gerissen und einem schwarzen
Mann mittleren Alters, teurer Kleidung und blutrotem Turban zugeführt.
Dschafar
war ein Meister der Dämonologie, ein Diener Sets und bis auf seinen
zahmen Raben Hector, der momentan seelenruhig auf seiner Schulter saß,
vertraute er niemandem. Er war hochgewachsen, gutaussehend, mit
schwarzer Haut, darüber teurem Gewand und einem durchdringenden Blick,
der selbst einen Barbaren erzittern ließ. Seine Karawane durchquerte die
Wüste, vor gut zwei Tagen verließen er und seine Dienerschaft das
diebische Küstenloch und heute Abend würde er zum ersten Mal seine
neueste Beute begutachten. Victoria... Wozu brauchte sie überhaupt einen
Namen? Sollte er sie denn länger leben lassen, als ihre Vorgängerinnen?
Sollte er mit diesem Mädchen sorgfältiger spielen
und sie sich
etwas erhalten, bevor er sie zu Staub zersetzte? Er war kein naiver
Jüngling mehr und keine Frau sollte je wieder Macht über ihn bekommen.
Er würde sich an ihnen allen rächen, Stück für Stück, Mädchen für
Mädchen. Doch diesmal konnte es zumindest interessant werden, sie kam
aus einem Mitrastempel und war sogar noch unberührt, wie einer der
Piraten ihm versicherte. Ja, er würde sich etwas ganz Besonderes für
sein neues, noch keusches Spielzeug einfallen lassen. Bei dem Gedanken
grinste er erhaben, fühlte er sich doch nur wohl, wenn er die Kontrolle
über alles in seinem Umfeld Geschehene behielt.
Victoria lehnte sich müde auf den vorderen Höcker des langsam schreitenden Kamels, an das sie gefesselt war. Schielend spähte sie zur Spitze der Karawane, dort zum schwarzen Zauberer. Wozu hatte er sie gekauft? Sie sah keine anderen Frauen unter seiner Dienerschaft und selbst wenn er sie nur zur Befriedigung seiner niederen Triebe missbrauchen wollte, so ein stattlicher Mann wie er, hatte dies doch nicht wirklich nötig. Sie blickte in Gedanken zurück: Ihre Eltern, der Tempel, die zukünftige Priesterschaft, Selene, Mirella, Hana und ihre anderen Freunde, all das war verloren gegangen. Wenige Wochen konnten so viel zerstören. Die Sonne ging unter, als die Karawane nahe einer kleinen Oase Halt machte und das Lager aufschlug. Man gab ihr Wasser und sie durfte sich, unter dem strengen Blick eines Dieners, waschen. Man kleidete sie in ein durchsichtiges Gewand, weinrot und mit goldener Stickerei verziert. Sie hatte in ihrem Leben noch nie so etwas Schönes getragen und doch hätten sie sie auch in einen schmutzigen Sack stecken können, so wenig konnte sie sich darüber freuen. Mit gesenktem Haupt betrat sie das große Zelt Dschafars, er selbst saß auf einem seidenen Kissen zu Boden und verfütterte kleine Fetzen Trockenfleisch an Hector, der sich ungeduldig auf seinem ausgestreckten Arm hin und her bewegte. Mit einem Mal flog er fort und setzte sich auf das obere Ende einer großen länglichen Truhe, die mit schwarzer Seide umhüllt war. Dschafar wandte sich um zu Victoria, deren Knie in diesem Augenblick hätten nicht mehr zittern können, stand auf und verbeugte sich lieblich lächelnd vor ihr. "Die Sterne beneiden dich um deinen Glanz, oh Schönheit. Der Mond selbst, scheut den Vergleich mit dir. Tritt näher zu mir, Liebste. Und ich will dich mit Küssen bedecken."
Victoria blieb weiterhin stehen und traute ihren Ohren nicht. Der Mann war offensichtlich wahnsinnig! Der Zauberer lachte nur freudig auf und winkte sie näher heran. "Na komm schon, mein Kind. Du bist doch gewiss halb verhungert, ist es nicht so? Schau her, was ich dir biete!" Er deutete auf eine leere Platte aus Silber, gleich neben der seltsamen Truhe, und wie aus dem Nichts erschienen die köstlichsten Speisen. Victoria fiel erschrocken auf den Knien zu Boden. "Wie... Aeehh... " - mehr brachte sie stammelnd nicht hervor und Dschafar grinste erfreut. "Zauberei, Mädchen, Zauberei! Konnten deine Priester im Tempel das nicht auch? Nein? Ach, ich vergaß, sie verehrten einen Eunuchen, einen zahnlosen alten Löwen, statt eines richtigen Gottes, einen mit Macht! Wie bedauerlich für sie und ihre toten Seelen..." Er zwinkerte ihr schelmisch zu, setzte sich vor die reichlich gedeckte Platte, packte Victorias Arm und zog sie ohne Vorwarnung, neben sich zu Boden. "Ihr... Ihr dürft nicht so über den Herrn der Ordnung sprechen. Wir alle verdanken ihm unser Lebe-" - "MIR, nur MIR ALLEIN verdankst du dein kümmerliches Leben, Jungfrau! Vergiss das nicht!" - unterbrach Dchafar sie harsch, dann seufzte er spielerisch und nahm sich eine einzelne Traube, führte jene zwischen die vollen Lippen seiner erkauften Beute. "Nun komm, sei ein braves Kind, widersprich mir nicht und iss." Victorias Augen füllten sich mit Tränen, als er ihr die Traube in den Mund schob. Sie hatte schrecklichen Hunger, aber sie hatte auch Angst vor diesem Wahnsinnigen und seiner unberechenbaren Art. Sie wollte schon kauen, da sah sie den Ring an seinem linken Zeigefinger. Eine gewundene schwarze Schlange, zwei kleine Rubine als Augen. Sofort spuckte sie die Traube zu Boden und richtete sich rasch auf.
"Ihr verehrt
die finstere Schlange und habt Eure Seele für schwarze Magie an sie
verkauft und nun wollt Ihr mich aus purer Bosheit mit in Euren Abgrund
stürzen!" Lachend erhebte sich der hochgewachsene, schwarze Zauberer und
verpasste Victoria in nächster Sekunde einen kräftigen Schlag mit dem
Handrücken. Sie fiel der Länge nach auf die große Truhe hinter sich und
erblickte unter der schwarzen Seide eine eingeritzte Figur einer
weiteren Schlange. Zitternd lag sie wie versteinert auf dem Rücken,
wollte sich rühren, doch es gelang ihr nicht. Dschafar ließ seinen
Mantel zu Boden fallen und entblößte seinen glatten athletischen
Oberkörper. Am Gürtel kam ein gezackter Dolch zum Vorschein, der hörbar
auf die Kiste schlug, als er sich auf seine Beute legte. "Da versucht
man zärtlich zu sein und so wird es einem gedankt? Nun komm schon, mein
Kind. Fürchte dich nicht vor der Schlange, sie wird schon nicht beißen!"
Er lachte erst schallend auf, dann begann er küssend in ihrer Halsbeuge
zu versinken. Sie wäre bereit gewesen sich ihm notfalls zu fügen und so
wenigstens ihr Leben zu bewahren, doch wie konnte sie das jetzt noch?
Wo doch nicht nur die Reinheit ihres Körpers auf dem Spiel stand,
sondern vielmehr die ihrer Seele! Wenn er sie hier nehmen sollte, unter
dem Zeichen Sets und dem Beiwohnen teuflischer Magie, sollte er sie am
besten gleich danach mit dem Dolch erstechen.
Der Dolch! Sie musste an ihn gelangen, nun konnte kein Preis mehr zu hoch sein. Sie durfte sich nicht der Schändung ihrer Seele wehrlos fügen, um Mitras Willen! "Gib... Gib mir Kraft Allvater." Stammelte sie vor sich hin, während er begann, zumindest noch angezogen, sich an ihr zu reiben. Alles Weitere geschah, als ob jemand Fremdes ihren Körper steuern würde: Sie ergriff den Dolch an seinem Gürtelbund und da war dieser stille Rabe, direkt neben ihnen auf der Truhe. Bis dahin seelenruhig, als wäre er ein genüsslicher Zuschauer des finsteren Schauspiels gewesen. Die scharfe Klinge traf Hector unvorbereitet und das Blut ergoss sich auf die schwarze Seide, durchtropfte sie und bildete sich in der geschnitzten Schlangenform darunter ab. Dschafar richtete sich blitzschnell mit dem Oberkörper auf und wie durch ein Wunder, gelang es Victoria ihn gänzlich von sich zu drücken. Während der Zauberer wie in Schockstarre seinen, im Todeskampf zappelnden, gefiederten Freund vorsichtig mit den Händen umklammerte, ließ Victoria den Dolch fallen und rannte aus dem Zelt, hinaus in die finstere Nacht. Ihre Füße trugen sie Meter für Meter durch den Sand, mehr und mehr, sie dachte nicht nach, sie rannte nur und wie durch ein weiteres Wunder, rannte ihr niemand hinterher.
Nach einer Weile verschwanden die Zelte hinter ihr, ließ sie jeden und alles zurück und empfing die weite Wüste mit offenen Armen...